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Fuller | 2014 | Acryl, Leinwand | 145 x 110 cm |


Der Wunsch – beinahe eine kleine Liebesgeschichte

[ Auszug ]

Kurzgeschichte von Kai Bliesener


Das neue Jahr stand vor der Türe, klopfte immer lauter an, drängte herein, wie ein kalter Wintertag. „Wird’s besser, wird’s schlimmer?“, hatte schon der gute alte Erich Kästner gefragt. Aber das weiß man nicht, sagte er sich. Darum war es egal. Es kam, wie es kam.
Was er allerdings wusste: Er wollte sie sehen, endlich treffen. Sie spüren, ihren Körper. Sie berühren, ihre weiche, warme Haut, überall. Und er wollte tanzen. Mit ihr.
Doch er zweifelte, hoffte dennoch.
Ohnehin schien nichts mehr sicher zu sein in dieser Welt, die völlig aus den Fugen geraten war. Eine Menschheit am Steuer, blindlings dem Abgrund entgegen rasend und dabei den Fuß noch weiter auf dem Gaspedal.
Bekam das inflationär von irgendwelchen Gutmenschen als Lebensweisheit versprühte Carpe Diem nicht dadurch eine neue Bedeutung? Den Tag leben. Das Leben genießen. Nichts aufschieben, denn morgen konnte es vorbei sein. Und was belastete, das kam auf die Müllhalde der vergeudeten Zeit. Der Gedanke gefiel ihm. Er schrie nach Leben. Hier und jetzt.
Dazu gehörte sie. Vor allem sie. Nur sie.
Tanzend, in ihrem roten Kleid. Ein Bein in der Luft, sich drehend, immer und immer wieder, bis der Schwindel sie beinahe aus der Bahn warf. Ein Tanz auf dem Vulkan, mal wütend, mal elegant. Aber immer in Bewegung.
Ihre Haare, die über die Jahre mal kürzer, mal länger, mal heller, mal dunkler waren, wirbelten dabei durch die Luft. Oder sie waren zu einem neckisch wippenden Zopf gebunden, während einzelne Haarsträhnen in ihr Gesicht fielen.
Doch immer sie. Immer nur sie.
Im weißen Kleid, die Saiten einer Luftgitarre zupfend, während Nada Surf vom Blankest Year sangen.
Sie, nach einer durchgemachten Nacht in einem fremden Bett alleine aber glücklich aufgewacht, nackt in das weiße Bettlaken gehüllt und barfuß zu Diamonds von The Boxer Rebellion durch das abgedunkelte Zimmer hüpfend.
Oder wieder sie, allein am Meer, gedankenverloren bei sich selbst mit Anyone`s Ghost von The National im Ohr.
Und wieder sie, der feingliedrige Körper im Rhythmus zu Jigsaw into Peaces von Radiohead über die Tanzfläche schwebend, im blauen Top und dabei verträumt lächelnd.
Ja, all das war sie. Versionen von ihr, die nur ihm gehörten.
Doch es blieben Gedanken und Erinnerungen. Erträumte Erinnerungen an nie erlebte gemeinsame Konzerte, bei denen sie getanzt hatten, bis ihre Körper erschöpft, glitschig und durchgeschwitzt waren, wie nach einer nicht enden wollenden Liebesnacht. Falsche Erinnerungen an gemeinsame Tänze, die längst ausgetanzt waren, bevor die Musik zu spielen begonnen hatte. Er hatte seine Gefühle geteilt, doch sie immer nur in fremden Häusern geschlafen.

[…] 

Die komplette Geschichte ist im Buch „Tote Ratten und Gummibärchen – von leichter Schwere und schwerer Leichtigkeit“ enthalten.
ISBN 978-3-98576-043-5



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